Erfahrungsbericht einer Mutter mit einer Twice-Exceptional-Thematik ihres Sohnes
Wie sind sie auf die Twice Exceptionality (Hohes Potential und Lernschwierigkeit) Ihres Kindes aufmerksam geworden?
Von der hohen kognitiven Begabung wussten wir schon seit Anfang der Primarschulzeit. Unser Sohn wurde damals abgeklärt. Ihm ging es in der Unterstufe sehr gut und, auch obwohl er von der Schule nicht gerade begeistert war, lief alles ohne Probleme. Später wurde bei ihm auch eine ADHS-Thematik festgestellt. Diese war lange nicht spürbar. Mit seinem hohen Potential war es ihm wahrscheinlich lange möglich, diese Lernschwierigkeiten gut zu kompensieren. Mit der Mittelstufe und einem Lehrpersonenwechsel veränderte sich vieles. Der Schulstoff wurde anspruchsvoller und es war mehr Selbstorganisation unseres Sohnes im Schulalltag notwendig. In dieser Zeit entwickelte er schulvermeidendes Verhalten und Ängste. Es kam immer häufiger zu Schulfehltagen wegen Bauchweh oder Ängsten. Er schilderte mehr und mehr, dass er sich nicht konzentrieren konnte. Seitens Schule wurde seine Aussage zwar gehört, aber es wurde kaum etwas verändert. Schulgespräche drehten sich immer nur darum, dass er sich nicht genügend bemühe, er zu viel mit den Lehrpersonen diskutiere. Die Fehltage führten zu für ihn frustrierenden Nachholarbeiten, die er nicht zur Zufriedenheit der Lehrpersonen lösen konnte. Schliesslich empfahl die Schule eine Querversetzung in ein anderes Schulhaus. Das hat unserem Sohn emotional sehr belastet und ihn in eine tiefe Krise geführt. Da wir Eltern uns nicht erklären konnten, warum schulische Themen unserem Sohn so schwerfielen, haben wir eine weitere Abklärung auf ADHS initiiert. Unsere Vermutung wurde mit der Abklärung bestätigt. Zu diesem Zeitpunkt hatten wir ihn bereits aus der Schule genommen. Es ging ihm psychisch so schlecht, dass an einen regulären Schulbesuch in der neuen Schule nicht mehr zu denken war. Es war klar, dass wir eine andere, flexiblere Schule suchen mussten.
Welche Beobachtungen haben Sie zuvor gemacht?
Unser Sohn war lange ein unauffälliger und unproblematischer Junge, der uns viel Freude bereitet hat. Abgesehen von „Er diskutiert gerne“ und „Seine Blätter sind nicht so schön gestaltet“ gab es seitens Schule keine negativen Rückmeldungen. Auch zuhause war es unkompliziert mit ihm. Irgendwann hat unser Sohn realisiert, dass er schulisch nicht mehr das zeigen konnte, was er von sich selbst erwartete. Das führte dazu, dass er schulische Inhalte und später die Schule immer mehr vermieden hat. Auch die Konflikte mit der Lehrperson waren ihm sehr unangenehm und eine Quelle von viel Selbstzweifel und Stress.
Welche Lösungsschritte haben Sie vorgenommen?
Als der Schulbesuch an der bisherigen Schule nicht mehr denkbar war und es unserem Sohn psychisch sehr schlecht ging, brauchten wir individuelle Lösungen, um das gesamte System zu entlasten. Wir konnten damals eine Einzelbeschulung und ein Lerncoaching während vier Monaten organisieren. Nach einiger Zeit ging es ihm wieder besser und ein Schulstart war wieder möglich. Unser Sohn ist dann an einer privaten Oberstufe gestartet. Wichtig war dort die Offenheit der Lehrperson und das differenzierte Erklären und Verstehen der verschiedenen Aspekte der Diagnose. In der ersten Phase war es für unseren Sohn wichtig, nur auf die Hauptfächer zu fokussieren, um mehr Zeit für Regeneration und Kreativität zu haben. Zentral war auch die Medikation mit Stimulanzien an Schultagen. So konnte unser Sohn Schritt um Schritt wieder zu einem besseren Vertrauen in seine Fähigkeiten kommen und das Gefühl loswerden, dass er „es einfach nichts hinkriegt“. Nach einem Jahr in der privaten Oberstufe (er hatte soeben erst das volle Schulpensum aufgenommen) hat er entschieden, die Prüfung ans Kurzgymnasium machen zu wollen. Mit grosser Motivation hat er sich für die zentrale Aufnahmeprüfung für Gymnasien vorbereitet und die Prüfung mit sehr guten Noten bestanden. Nun sind wir gespannt, wie es auf dem Gymnasium weitergeht. Einen Nachteilsausgleich für ADHS haben wir bereits beantragt.
Wie hat die Schule die Einschätzung und Unterstützung in der Schule?
In der Primarschule gab es wenig Unterstützung und Verständnis. Lehrpersonen mit Expertise im Bereich Hochbegabung gab es nicht und weil unser Sohn nicht die typischen ADHS-Symptome zeigte bzw. sich diese hinter Ängsten und Schulvermeidung versteckten, gab es auch diesbezüglich keine Hilfestellungen. In der privaten Oberstufe war das Verständnis dann da und die Schulleitung war sehr flexibel (Anpassung des Pensums zu Beginn u.a.). Zudem waren die Lehrpersonen alle Expert:innen in ihrem Fach, was unseren Sohn aufblühen liess („Mama, man merkt, dass die den Schulstoff wirklich verstanden haben und nicht einfach vor der Lektion im Buch nachgelesen haben“).
Was hat Ihrem Kind geholfen?
- Abklärungen zur Erfassung von Potential und Lernschwierigkeiten
- Individualisierte Begleitung und angepasstes Pensum für eine gewisse Zeit
- Medikation mit Stimulanzien
- Lehrpersonen, die den Schüler:innen auf Augenhöhe begegnen und Fachexpert:innen sind
- die Erfahrung, dass unser Sohn kann, was in ihm steckt, gesehen werden, wertgeschätzt werden
- Gewisse Hilfestellungen in der Organisation des Schulstoffes (Agenda, Folder, Lerntechniken)
- Einsicht, dass es von allen Beteiligten Anpassungen braucht und nicht nur das Kind «das Problem» ist